„Vorratsdatenspeicherung“ verstößt gegen Grundrechte und untergräbt eine freie Gesellschaft
20. Juni 2006Positions- und Forderungspapier des FORUM MENSCHENRECHTE (Kurzfassung)
Am 15. März 2006 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die „Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG“ beschlossen. Sie muss bis zum 15. September 2007 in nationales Recht umgesetzt werden. Das FORUM MENSCHENRECHTE – ein Netzwerk von über 45 deutschen Nichtregierungsorganisationen – ist besorgt über die zunehmende Infragestellung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Telekommunikationsgeheimnisses im Rahmen der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung anderer schwerer Straftaten. Es wendet sich daher mit einem Positions- und Forderungspapier an die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag.
Aus Sicht des FORUM MENSCHENRECHTE verstößt die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens und des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht verletzt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht aus Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) formuliert hat, sowie das Fernmeldegeheimnis aus Artikel 10 GG.
Für das FORUM MENSCHENRECHTE ist die verdachtslose und umfassende Speicherung der Telekommunikationsverbindungsdaten sämtlicher NutzerInnen nicht hinnehmbar. Sie ermöglicht die lückenlose Erfassung des Kommunikationsverhaltens und sogar der Bewegung aller EU-Bürgerinnen und -Bürger und kann damit zur Einschüchterung und zu Befangenheit in der Kommunikation führen. Die Freiheit und die Vertraulichkeit des Briefverkehrs und anderer Kommunikationsformen gehören aber gerade zu den Pfeilern einer demokratischen Gesellschaft. Mit der vollständigen Speicherung wird völlig unverhältnismäßig in die Grundrechte sämtlicher NutzerInnen eingegriffen. Aus dem berechtigten Interesse des Staates, (schwere) Straftaten zu verfolgen, lässt sich kein Recht des Staates ableiten, grundsätzlich von allen BürgerInnen zu wissen oder wissen zu können, wer mit wem wann über welches Medium kommuniziert hat und wo er oder sie sich dabei aufgehalten hat.
Darüber hinaus haben sich EU-Rat und EU-Parlament beim Beschluss der Richtlinie auf die falsche Rechtsgrundlage (Artikel 95 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) gestützt. Der Inhalt der Richtlinie verfolgt in erster Linie Strafverfolgungsinteressen und dient nicht der Vereinheitlichung des Binnenmarktes. Die Regelung der Vorratsdatenspeicherung hätte daher ihre Rechtsgrundlage im Titel VI des Vertrages über die Europäische Union (EUV) finden müssen.
Das FORUM MENSCHENRECHTE fordert daher
– den Bundestag auf, sich ernsthaft mit Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung zu beschäftigen. Mit dem anlassbezogenen Speichern, dem sogenannten Quick Freeze-Verfahren, steht eine weniger eingreifende, aber dennoch taugliche Maßnahme zur Verfügung.
– die Bundesregierung auf, als einzig Klageberechtigte vor dem Europäischen Gerichtshof nach Artikel 230 EGV eine Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wegen der falschen Rechtsgrundlage zu erheben. Bis zu einer Entscheidung des Euro-päischen Gerichtshofs fordert das FORUM MENSCHENRECHTE die Bundesregierung auf, von einer Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht abzusehen.
– den Bundestag auf, wegen der schwerwiegenden verfassungs- und grundrechtlichen Verstöße einem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht unter keinen Umständen zuzustimmen.
Berlin, den 16. Juni 2006
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